15
Mai
2011

Frau Settergrens Video Blog

Das Leben - und wie ich es zu meinem machte. Jetzt online bei Facebook.

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6
Sep
2010

Über falsche Bestellungen und Nah-rung

Bei meiner Bestellung sagte ich extra “Ohne Champignons bitte” und während ich den ersten Löffel meiner heißgeliebten Kumpir gierig in mich hinein schiebe, spüre ich im selben Augenblick die wabbelige, unverwechselbare Konsistenz in meinem Mund. Ein Champignon. Ich spucke ihn zurück auf meinen Teller und wie ein in sich zusammen sackendes Überbleibsel eines Gedärms liegt er da, nackt, sich selbst überlassen, hilflos. Wieder ist es passiert: ich habe klar und deutlich geäußert, was ich haben möchte. Kurz und präzise. Kein Raum für eigene Interpretationen. Ich hasse Champignons in meiner Kartoffel. Ich hasse sie. Nein, ich kann nicht behaupten, dass ich immer das bekomme, das ich will, bestelle oder wünsche. Nein. Ich tausche Geschenke nicht um, obwohl man mir vorher freundlich flötend versichert, dass das “gaaar nicht schlimm” wäre. Passen mir die neuen Schuhe nicht, laufe ich tapfer mit Blut in den Schuhen die nächsten 3 Wochen durch die Gegend, weil ich mich davon überzeuge, dass die sich auf jeden Fall noch weiten. Selbst wenn ich etwas online bestelle, das nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt habe, behalte ich es. Aus Faulheit und weil ich ein Meister darin bin, mir Dinge schön zu reden, die ich gar nicht mag.

Dass ich das aber auch umgekehrt meisterhaft beherrsche, das war mir nicht klar. Aufgekratzt sass ich mit meiner besten Freundin und zwei Jungs in einem Restaurant. Es war ein schöner Tag, die Sonne und die nicht zu verachtende Menge an Alkohol hatte uns Mädchen in eine schwer nachvollziehbare, fast peinliche gute Laune versetzt. Die Hemmschwelle bezüglich stumpfsinniger Äusserungen wurde nicht schon längst nur übertreten, sie wurde komplett niedergerissen. Das begleitende Gegackere hallte laut in dem Innenhof nach wie ein Echo in den Bergen und der uns unbekannte Kumpel vom Boy verzog fast unmerklich das Gesicht. Er starrte an mir vorbei und Rettungslöcher in die Luft, kleine Ausgänge, hinter welchen eine andere Welt auf ihn wartete. Eine Welt voller Ruhe, Intelligenz und Männerthemen. Er wollte nicht bei uns sein.

“Du redest nicht so viel, oder?” fragte ich ihn, nachdem ich in Höchstform wild gestikulierend mit einer weiteren Anekdote meines Lebens auffuhr. Der Langweiler guckte mich nur an, träge desinteressiert, und zuckte mit den Schultern. Sein Freund kam ihm zur Hilfe. “Er ist gerade nicht so gut drauf...” Aha dachte ich und fragte: “Weiberkram?” Stummfisch nickte. Er tat mir leid, wie er da sass, mit hängendem Kopf, sich sichtlich unwohl fühlend. Trotzdem kam ich nicht an dem garstigen Gedanken vorbei, dass er selbst Schuld an seiner Misere war. Welche Frau will denn so einen latent depressiven, in sich gekehrten Halbautisten? Dafür, dass ich ihn erst seit geschätzten 20 Minuten “kannte”, wagte ich wie gewohnt eine direkte Analyse seines Wesens, seines Charakters, ja seines gesamten Lebens. Emo-Mann wollte vermutlich einfach nur nach Hause, in seine vier Wände. Sich seinem Kummer widmen, schwerer Geigenmusik lauschend und sich kettenrauchend aufkeimenden Suizidgedanken hingeben. Aber er war gefangen. Gefangen in der lauten, grellen, unwitzigen und albernen Mädchenwelt. Zum Glück sollte gleich sein Burger serviert werden. Sein Männer-Essen, das er sich bestellt hatte und das der einzige Lichtblick seines Tages werden würde.

Unser Essen kam. Meine Spaghetti Bolo waren – wie sollte es auch anders sein – ekelhaft. Sie schmeckten einfach nur nach Tomatenmark. Ich moserte. Meine gute Laune verflüchtigte sich innerhalb von Sekunden und ich war bereit, alleine in Polen einzumarschieren und zu rufen: “Ich habe diesen Krieg nicht angefangen, aber ich werde ihn beenden!”. Ich schob demonstrativ den Teller von mir weg und verschränkte die Arme. Meine nicht zu übersehende Missgunst bezüglich meiner Nahrungswahl wurde von bester Freundin und Boy schlichtweg ignoriert. Glücklich und in sich gekehrt machten sie sich über ihr leckeres Essen her. Mir wurde klar, von diesen beiden egoistischen Essgestörten habe ich nichts zu erwarten. Doch Trauerkloß beobachtete mich. Zog die Stirn kraus und formte einen ganzen Satz: “Magst du die Nudeln nicht?” “Ja ach mag ich die Nudeln nicht, du Blitzmerker!” dachte ich und antwortete stattdessen: “Neee. Die schmecken nach Tomatenmark.” Sein Blick wanderte auf seinen Burger und dann auf meine Nudeln. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als er sagte: “Dann gib halt her... Ich esse deins!”. Oh mein Gott, Jackpot. Ich wartete noch sein “Ich schmecke sowieso nichts, ich bin so voller Trauer und am Liebsten würde ich einfach nie mehr etwas essen!”, das natürlich nicht kam, ab und zog seinen Teller an mich heran. Bestes Burger-Fleisch. Ich beobachtete ihn, wie er ruhig meine Nudeln, die nun seine waren, aß. Unsere Blicke trafen sich und ich lächelte ihn an. Er schüttelte leicht den Kopf und widmete sich wieder den Nudeln. Ich fragte mich, warum er das tat. Warum der Mensch, dem ich und der tomatenmarkige Fraß sicherlich am Arsch vorbei gingen, ein derartiges Opfer brachte, während der Mensch, der eigentlich meine Ekelmenü essen sollte, nicht mal bemerkte, dass ich meine Nudeln verabscheute.

Retten konnte ihn das vor meiner Stempelvergabe an diesem Abend trotzdem nicht mehr. “Der ist aber langweilig... Ich würde sagen, das ist der langweiligste Mensch, den ich jemals in meinem ganzen Leben getroffen habe. Wie passt der denn in deinen Freundeskreis?? Gruselig.” verkündete ich ungefragt mein Fazit auf dem Nachauseweg. “Gruselig, wirklich gruselig.”

Gruselig ist aber eigentlich nur, was sich später, viel später, abspielte:

“Brrr, also der ist ja so überhaupt nicht mein Typ!”
(Alter, was hat der denn für nen schönen Mund? Und die Augen! Abartisch.)

“Jura studiert der? Oh Gott, Seglerschuhe und hochgestellter Kragen oder was?”
(Wie süß sieht der denn in dem Ranz-T-Shirt und der 501 aus?)

“Was erzählt der denn überhaupt so, wenn er mal redet?”
(Scheiße, der Typ ist ja sogar witzig.)

“Der steht doch bestimmt nur auf so kleine Abi-Mädchen vom Hamburger Berg!”
(Hoffentlich steht der auf mich!)

“Was ist denn das für ein ulkiger Nachname? So will doch niemand heißen!”
(Doch. Ich.)

Nein, ich kann nicht behaupten, dass ich immer das bekomme, das ich will, bestelle oder wünsche.
Aber ihn habe ich mir gewünscht. Ich habe es nur nicht gewusst.

22
Aug
2010

Unser letzter Tag.

Nasses Haar, das im Gesicht kitzelt
Meine Nase in deinem Nacken
Sonnencreme vermischt mit Chlorgeruch
Dein Lakritzstangen Atem und mein Lutschmuschel Duft
Eingerollt auf einer Decke
Viel zu spät zum Sonnen
Kurz vor der Dämmerung
Noch ein Sprung ins Wasser
Noch eine Toberei
Helles Lachen, neckisches Geschubse
Wettschwimmen und atemloses Festklammern am Beckenrand
Zufällige Berührungen, die bewusste Annäherung unserer Köpfe
Unsere süßen Sommerküsse, nur unterbrochen durch mein Gekicher
Sommersprossenzählen und Eisstiel schnieken
Unsere kleinen Bisse, weil Küsse nicht mehr reichten
Der Wind in den Bäumen und das Rascheln der Blätter
Sommersonne Abendlicht
Dürfen kleine Kinder nicht
Wir durften alles, die Welt gehörte uns
Waren so unbewusst glücklich, so in uns verliebt
Händchenhaltend auf den Rädern
Mein Kopf an deiner Brust, vor dir sitzend auf der Stange
Unser Abend war nicht vorbei, würde nie vorbei sein
So ein großes Gefühl im Bauch und ich wusste Du hattest es auch
Keine Unsicherheit, keine Zweifel
Wir waren eins und eins und eins und eins
Eine Eins, eine Einheit
Die Überraschung im heilen Kinderherzen zu erfahren „das ist Liebe? Das ist die Liebe?“
Wir konnten es nicht fassen, erzählten uns und allen Menschen auf der Welt unsere Geschichte
die unendliche sollte es werden
doch jemand raubte uns diese kleine unscheinbare Silbe
un
diese zwei kleinen Buchstaben, die für uns alles waren
und so endetest du
endeten wir
und verendete ich.

In Erinnerung an den 22. August 1994. - Du fehlst.

24
Jul
2010

This is not a love song.

Es war ein schwerer Streit. Ein böser, gemeiner Kampf. Der liebenswürdige Held trifft auf den gnadenlosen Endgegner und dieser hat nur ein Ziel: die totale Zerstörung. So wie in jedem Computerspiel gibt es einen Zaubertrank, eine Wunderwaffe oder eine Melodie, die den Feind hilflos zu Boden sinken lässt.

„Don’t leave me this way!“ ruft er mir hinterher. Und weil ich automatisch Thelma Houston höre, wie sie traurig ihre Verzweiflung ins Mikro haucht, drehe ich mich um und kehre zurück. Gehe langsam auf ihn zu, kopfschüttelnd und lasse mich von ihm umarmen, von ihm küssen und weiß, ich habe es wieder nicht geschafft. Ihn zu besiegen. Ihn zu verlassen.

Ich hatte es fest vor. Ich habe akribisch genau alle Gründe aufgezählt, warum es mit uns nicht klappen kann. Er ist zu jung. Viel zu jung. Nein, ich sehe nicht diese schreckliche tickende Uhr über meinem Kopf. Ich verspüre keinen Kinderwunsch und ich es ist auch nicht so, dass ich keine Liebe suche, sondern Sperma. Aber ich möchte doch zumindest die Möglichkeit nicht ausschließen und die Fantasie haben, dass der Mann, mit dem ich ein- und beischlafe, der potenzielle Vater einer meiner Kinder sein könnte. Irgendwann. Der viel traurigere und gewichtigere Grund ist ein anderer.

Ich liebe ihn nicht. Ich liebe sein Lachen, sein Haar, seinen Körper, seinen Witz und seine Sanftheit. Seine Unbekümmertheit fasziniert mich und ich fühle mich geborgen, wenn er mir vor dem Einschlafen leise etwas vorsingt und meinen Rücken streichelt. Ich bin glücklich, wenn wir in der Dämmerung am Strand sitzen und über Gott und die Welt sprechen und ich bin eifersüchtig, wenn ihm schöne Mädchen kecke Blicke zuwerfen. Aber ich liebe ihn nicht.

Wollte ich mit ihm darüber sprechen, lenkte er ab, fiel mir ins Wort. Als könnte er damit die unabänderliche Wahrheit in ein Happy End verwandeln. Der Tee muss nur lang genug ziehen, dann wird er schon schmecken. Wenn ich nicht mehr weiter wusste, kamen mir die Beatles zu Hilfe. Ich versuchte es mit „You like me too much!“, entschuldigte mich mit „I should have known better“, erklärte mich mit „I’m happy just to dance with you“ und befahl ihm „You’ve got to hide your love away“. Aber nichts wirkte, nichts machte es besser. Wir verfingen uns im Strudel der verzweifelten und unerfüllten Liebe und in meinem Kopf lief in einer Endlosschleife eine traurige Version von „Help!“.

Und jetzt sitzt er wieder vor mir. Hält meine Hände als würde das irgendetwas ändern. Als hielte er mich fest wie einen Heliumballon an der Schnur. Er ist erschöpft, das Schreien und Weinen hat ihm Kraft geraubt. Er schließt die Augen und murmelt in meinen Nacken „I don’t wanna go on with you like that“. Elton John. Er wischt sich mit beiden Händen die Tränen aus den Augen und atmet mit einem traurigen Lachen aus. „I want love“. Wieder Elton John. Ich schaue ihn an und hoffe darauf, dass er vielleicht mit „This train don’t stop here anmyore“ nachlegt. Aber er schweigt. Als hätte ihn in letzter Sekunde der Mut verlassen.

Vor dieser traurigen Zeit war er mutig. Tanzend rempelte er mich in dem überfüllten Underground-Schuppen in Shoreditch an. Mein Drink schwappte über und ich blickte ihn sauer an. „Hey, das ist doch nicht so schlimm, du bist doch eh schon total hinüber.“ lachte er, nahm meinen Wodka und exte ihn in einem Zug. Wie selbstverständlich griff er nach meiner Hand und wir tanzten. Tanzten die ganze Nacht. Unsere Freunde vermischten sich, tranken zusammen, lachten zusammen und so wurde unsere Welt geboren. In nur einer Nacht. Er brachte mich nach Hause. Es war warm. London war außergewöhnlich still, so als hielte die Stadt den Atem an, um unseren Moment nicht zu zerstören. Er war übermütig. Kletterte auf Straßenlaternen, bis nach ganz oben, und pflückte mir eine der süßen Blumen, die von den Kübeln baumelten. Er hangelte sich nicht herunter, sondern sprang. Wie eine Katze. Und küsste mich. Einfach so. Und einfach so, blieb ich dort. 3 Monate.

Als ich wieder zurück nach Hamburg musste, sahen wir uns trotzdem ständig. Egal, ob ich jemanden in Deutschland küsste oder er jemanden in England, das zählte nie. Wir lebten in unserer eigenen Welt, die aus Skype und Ryanair bestand, und redeten uns ein, dass wir alles richtig machten. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander und es war einfach, weil kein Kusspartner, egal ob englisch oder deutsch, den Sprung in ein höheres Level schaffte. Wir waren glücklich. Jedenfalls so glücklich, wie man ohne Liebe sein kann.

„I want love“. Und da wird es mir klar. Jetzt, in der Stille des Moments, fernab der Ablenkung, der Parties und des Alkohols, wird mir klar, was ich die ganze Zeit hätte wissen müssen. „Ich habe Liebeskummer.“ flüstere ich. Er springt auf, als hätte ihn jemand erschreckt. „Aber den musst du doch gar nicht haben! Wir bekommen das schon hin, ich ziehe nach Deutschland oder du nach England, es gibt doch eine Lösung.“ ruft er aufgeregt, fast beschwingt. Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen steigen und mir schlecht wird. „Ich bin traurig wegen eines anderen.“ Er starrt mich an. Seine Augen verengen sich, sein Mund wird schmal. Er presst die Lippen aufeinander und stützt seinen Kopf in beide Hände. „Wann hast du ihn kennengelernt?“ Seine Stimme zittert. „Im April“ sage ich leise. „Aber es ist schon wieder vorbei.“ Ich fange an zu weinen, umarme ihn und er klammert sich an mich. So bleiben wir eine endlos lange Zeit auf dem Sofa. Die Sonne wirft lange Schatten auf den Boden, auf welchem wir gestern noch lagen und uns mit Marshmallows fütterten.

Ich spüre seinen Herzschlag an meinem Kopf und weiß, welcher Song gleich kommen wird. Ich küsse ihn ein letztes Mal, während mein kleines Orchester die ersten Takte spielt...

„You must leave now, take what you need,
you think will last

But whatever you wish to keep, you better grab it fast

Yonder stands your orphan with his gun

Crying like a fire in the sun

Look out the saints are comin’ through

And it’s all over now, Baby Blue“

12
Jun
2010

In der Nase eines Mannes...

Dass sich 90% aller Männer gern in unbeobachteten Momenten in den Schritt fassen, wird mir jeder bestätigen. Auch die Männer selbst. Fast stolz werden einige unter ihnen verkünden, dass dies gern auch in beobachteten Momenten stattfindet. Sie denken nicht darüber nach, sie tun es einfach. Ein Reflex, den die Frauenwelt schwer oder gar nicht nachvollziehen kann. Doch wer denkt, dass der Griff in den Schritt die typischste und verbreiteste Unart ist, der irrt. Was viel viel häufiger vorkommt und meiner Meinung nach jede Sexyness im Keim erstickt, ist der Finger in der Nase. Ob im Auto, im Supermarkt, an der Seitenlinie, hinterm Bürotisch, auf der Couch. Egal ob Kassierer, Spaziergänger, Autofahrer, Chef, Trainer, Postbote, ja sogar der eigene Freund. Egal wer, egal wann, egal wo. Warum? Woher kommt dieser Drang? Ich konnte bei diversen Exfreunden beobachten, dass beim gechillten Liegen auf der Couch die Hand automatisch in die Unterhose wanderte. Liebevoll wurde das Paket gehalten, gewärmt, kontrolliert, ob auch noch alles da ist. Irgendwie verständlich, macht das südliche Gehänge den wohl grössten Spaßfaktor im Leben eines Mannes aus. Aber was hat es mit der Nase auf sich? Jucken die frisch rasierten Haare? Checkt man dort ebenfalls die Juwelen, also das Nasengold? Steckt man eventuell vorwitzig herauslugende Härchen wieder hinein? Beruhigt der Finger in der Nase erwachsene Männer so wie der Daumen im Mund kleine Kinder? Ist das ein Penisersatz? Quasi die berühmte Pimmelnase? Enstpannen sie sich dabei?

Und denken die Männer ernsthaft, dass dieses halbe Wegdrehen und die gebeugte Körperhaltung uns die Sicht verdecken? Selbst wenn wir Frauen vorgeben, in eine andere Richtung zu blicken, sehen wir ganz genau, was sie da im Augenwinkel schon wieder fingerfertig in und mit der Nase fabrizieren. Mit dem Griff in den Schritt kann ich mittlerweile leben... Aber nicht mit dem Finger in der Nase. Eins geht nur. Entweder ist er ein Nasenbohrer oder ein Paketprüfer. Aber beides geht nicht. Männer, Ihr müsst Euch entscheiden. Und mir bitte mal erklären, was zur Hölle Ihr da macht. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ein Vertreter der männlichen Fraktion vortreten möge und mir dieses Schauspiel erklären könnte. Mir und allen anderen Frauen dieser Welt. Es dankt im Voraus,

Eure Frau Settergren

11
Jun
2010

Die Settergrens im General Hospital - Teil 1

Hochkonzentriert liege ich auf der Trage. Die Konzentration gilt dem erbärmlichen Versuch, meinen Mageninhalt bei mir zu halten. Mein Körper weiß keinen anderen Ausweg mehr, mit dem Schmerz, der sich in ihm ausbreitet wie das Öl im Ozean, fertig zu werden. Also droht er mit Kotzerei. Ich finde es auch zum Kotzen, Wonderland. Glaub mir. Meine Mutter allerdings, die findet alles ganz spannend. Mit großen Augen saugt sie die Atmosphäre und so wie ich sie kenne, sogar die ekeligen Krankenhausgerüche auf. Inspiziert alles in diesem kleinen, nach Desinfektionsmittel riechenden Raum. Ich lege meine verschränkten Arme auf meine geschlossenen Augen und bete, dass endlich jemand kommt und mich erlöst. Es muss nicht gleich der Heiland sein, aber ein Arzt oder eine nette Schwester, die mir einen intravenösen Zugang legt und mir Schmerzmittel einflösst, würde eine letzte schwache Begeisterung in mir auslösen. Ich schaue auf die viel zu große Uhr für diesen kleinen Raum und verfolge den Sekundenzeiger. Ich versetze mich in eine wegdrift-Stimmung, doch meine liebe Frau Mama unterbricht mich jäh.

“Bam-Bi! Nimm doch die Schuhe von dem Papier!” spricht sie und zieht gleichzeitig meinen rechten Fuss von der Trage. Mama. Das Papier liegt auf dieser Trage, damit die Leute, die sich vor Schmerzen krümmen, ihre Schuhe anbehalten können. Das wird nachher entsorgt und durch eine neue Auflage ersetzt. “Trotzdem. Dann zieh wenigstens die Schuhe aus.” Ja klar, ich ziehe schwuppdiwupp mal eben meine Schuhe aus, und wenn ich damit fertig bin, mache ich noch einen Flicflac aus dem Stand und einen Spagat. Ich kann vor Schmerz nicht sprechen und schenke ihr ein abschätzendes “Tsss”. Mama nimmt das als Startschuss und ehe ich noch etwas sagen kann, steht sie mit meinem rechten Schuh vor mir und freut sich. “Komm, den anderen auch noch.” Ich gebe mich geschlagen und halte ihr wie ein altes müdes Pferd beim Schmied meinen linken Fuss hin. “Du hättest dir ja wenigstens noch mal die Fussnägel lackieren können. Das machst du doch sonst immer. Also ich habe dich noch nie ohne Lack auf den Nägeln gesehen. Noch nie.”

Oh Gott, denke ich. Ich hätte das hier allein durchstehen sollen. Warum denken Mütter immer, sie wären eine Hilfe? Ab einem bestimmten Alter stimmt das nicht mehr. Natürlich, wir brauchen sie immer, egal wie alt wir sind. Besonders wenn wir als Kind hinfallen, wenn wir beim Puzzeln nicht weiter kommen, wenn wir Probleme damit haben, den Hintern wieder ausgehfertig zu säubern und wenn der bescheuerte Dennis Bohn einen mal wieder mit dem Roller angefahren hat. Aber im Erwachsenenalter, in dem Alter, wo wir all diese Dinge und noch mehr selbst regeln können, da verkomplizieren sie einfach alles. Alles. “Lass mich doch mal schauen, ob ich nicht diesen neuen Lack von Chanel noch in der Tasche habe. Den habe ich extra fürs Sommerfest eingesteckt, falls mal was passiert (kichert), du weißt schon.” Nein ich weiß nicht, aber ich lasse sie reden und schließe wieder die Augen. Ich merke, wie das Blut in meinen Ohren rauscht und weiß, dass ich gleich weinen könnte. Ich überlege kurz, die Tränen einfach fliessen zu lassen, und Mama damit nicht nur zum Schweigen, sondern auch zum Abbruch dieses seltsamen Verhaltens zu bringen, da öffnet sich die Tür.

Herein kommt ein ziemlich frischer, smarter Typ mit dunkler Surferfrisur. Nicht klassisch hübsch, aber irgendwie süss. “Sind Sie der Arzt?” fragt meine Mutter und springt von ihrem Stuhl. “Nein, ich heiße Adam und bin die Schwester.” Er lächelt mich an und meine Mutter guckt leicht irritiert. “Die Schwester? Ach, die Krankenschwester? (kichert wieder) das ist ja witzig. Gibt es dafür keinen eigenen Namen? Also für die Männer in diesem Beruf?” Adam versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er meine geliebte Mutter gerade in eine Schublade steckt, in die sie eigentlich gar nicht hinein passt. “Na ja, wir sagen immer alle Schwester und das ist eigentlich okay.” Warum auch nicht? Wenn ein heterosexueller Mann sich tagtäglich Schwester nennen lässt, zeigt das doch eigentlich, was für ein echter Kerl er ist. In meiner Welt. In der Welt meiner Mutter hinterlässt diese Tatsache fast sichtbare Fragezeichen, die sich über ihrem Kopf ineinander verschlingen und wie Blätter im Wind herumtänzeln.

“Wir wollen uns aber mal um die Patientin kümmern. Also, ich bin Adam und ich werde jetzt mal deinen Blutdruck und Fiebermessen. Okay?” Ich nicke nur und spare es mir, mich vorzustellen. Er sieht meinen Namen ja sowieso auf dem Krankenblatt. Während er mir die Manschette umlegt und dann erst auf mein Tattoo, dann in mein Gesicht starrt, sehe ich, dass er grüne Punkte in den braunen Augen hat. Und vier lustige Muttermale direkt neben der Nase. Ich frage mich, ob Adam gelegentlich auch bei Op’s assistiert und schäme mich direkt bei dem Gedanken, dass er mich hilflos und nackt sehen könnte. Ich habe von einem Freund, der in der Charité arbeitet, mal gehört, dass Leute während Operationen oft pupsen. Gott. Du flirtest mit dem Pfleger, pardon, der Schwester herum und er denkt die ganze Zeit daran, wie du auf dem Optisch gelegen und ein paar Töne zum Besten gegeben hast. Brrr. Schnell pumpt er Luft in die Manschette und das warme Gefühl stellt sich ein. Ich spüre meinen Puls und muss kein Facharzt sein, um zu wissen, dass er viel zu langsam ist. Adam zählt konzentriert. “ 75/40, Puls 64. Hm. Das ist niedrig.” stellt Adam fest. “Das ist viel zu niedrig!” ruft Mama mit aufgeregter Stimme. “Da bleiben doch Folgeschäden, wenn sie immer so einen niedrigen Blutdruck hat. Deshalb hat sie ja jetzt dieses Desaster mit den Nieren.” Adam sieht mich an und ich lege die Stirn kraus. Ich würde auch die Augen verdrehen, halte das aber für eine Respektlosigkeit gegenüber meiner besorgten, aufgeschreckten Mutter.

Adam kritzelt die Werte in mein Krankenblatt, dreht sich zu uns und sagt: “Nun warten wir mal ab. Ich nehme jetzt noch schnell Blut ab und dann wird sich der Herr Doktor alles ganz genau ansehen. So schnell versagen keine Organe.” “Ja schnell nicht, das ist wohl wahr, aber dieses Kind, das achtet ja nicht auf sich. Das geht ja nicht zum Arzt. Meine Tochter geht dann lieber gleich ins Krankenhaus. Immer alles auf den letzten Drücker, immer ALLES auf den letzten Drücker. Miete, Rechnungen, Passbilder, Bambi weißt du noch als du in den Urlaub wolltest und dein Pass abgelaufen war? Wann hast du es bemerkt? Einen Tag vor der Abreise. EINEN Tag!” Ich müsste mich aufregen. Unter normalen Umständen würde ich mich aufregen. Doch mit diesen Schmerzen, von denen meine kleine Mutter, wie sie da steht und sich künstlich und gleichzeitig liebevoll aufregt, gar nichts weiß, bin ich nicht fähig dazu. Ich kann kaum noch atmen und sehe diese zarte, kraftvolle Person mitten in einem Behandlungszimmer stehen, wild gestikulierend wie eine wütende Italienerin und weiß, dass sie gerade versucht, ihre Angst um mich zu unterdrücken. Und ich merke, wie sehr ich sie liebe.

Bevor ich sie liebevoll und verträumt anstarre, klopft Adam mir auf meine Venen und sprüht kaltes Desinfektionsmittel auf meine Haut. Ach Scheiße, die Blutentnahme. Ich weiß, dass die meisten meiner Fans mich für ne relativ coole Alte halten, aber beim Blutabnehmen verstehe ich keinen Spass. Ich bin panisch, regelmässig einer Ohnmacht nahe und es ist kein Gerücht, dass vor nicht allzu langer Zeit der Bespaßungsmann aus der Kinderkrankenstation kommen musste, um mich von der Spritze abzulenken. Deshalb sage ich Adam lieber Bescheid. Du, ich habe Angst vor Spritzen. Also, keine richtige Angst, ich kippe nur ab und an aus den Latschen. “Oh. Gut, dass du das sagst. Willst du lieber weg schauen? Willst du, dass ich ansage was ich mache? “ Hm ja. Klare Ansagen wären gut. Wäre schön, wenn sich der ein oder andere Typ, der mir in meinem Leben so über den Weg lief, sich eine große Scheibe von dieser strikten Schwester abgeschnitten hätte, denke ich. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und denke an was Schönes, während Adam mir erzählt was er gerade macht. Als er mich darüber informiert, dass er nun die Nadel einführt, merke ich das gleichzeitig selbst. Autsch. Ach ich hasse das.

Wir sind fertig. Adam räumt das Besteck weg, nimmt die Ampulle mit und grinst mich an. “Das haben wir doch gut gemacht. Ich nehme ehrlich gesagt nicht so oft Blut ab, aber das hat doch ganz gut geklappt!” Meine Mutter lacht. “Ach übrigens, die Schuhe musst du hier nicht ausziehen. Dafür ist das Papier ja da.” Ich zeige geschwächt auf meine Mutter, die jetzt lauter lacht und mit den Schultern zuckt. “Bis später, die Damen!” ruft Adam und verschwindet aus der Tür. Mama setzt sich neben mich und streichelt meinen Kopf. “Das hast du gut gemacht. Ich bin so froh, dass du so eine Angst vor Spritzen hast. Es gab eine Zeit, da warst du so durchgeknallt, da hatten dein Vater und ich ernsthaft Angst, du würdest früher oder später beim Heroin landen... Aber deine Panik vor Spritzen... Na ja, die hat uns wohl davor bewahrt!” Mama... Heroin kann man auch gut rauchen, flüstere ich und bekomme zur Belohnung einen Kuss auf die Stirn. “Mein armes Töchterlein...” seufzt Madame als trüge sie die Last der Welt auf ihren Schultern und fängt leise an zu singen: “When you've got worries, all the noise and the hurry seems to help, I know,...” Downtown stimme ich leise mit ein. Mama streichelt mein Haar, eine Weile schweigen wir. Bis sie die angenehme Stille unterbricht. “Hast du gesehen, der junge Mann hatte keinen Ring am Finger!” Oh Gott. Mama! Ich kann nicht glauben, dass ich sterbenskrank im Krankenhaus liege und meine Mutter sich immer noch der sich selbst gestellten Aufgabe widmet, einen potenziellen Schwiegersohn zu finden. “Ja du hast Recht, warten wir mal noch ab, wie der Arzt aussieht.”

To be continued...

8
Jun
2010

Was an einem einzigen Morgen alles schief gehen kann – von Frau Settergren

Ich hebe feierlich die Hand und gelobe, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit. So wahr mir Gott helfe. Seine Hilfe hätte ich an diesem heutigen Morgen mehr als nötig gehabt. Aber wo war Er? Vermutlich hatte der Heilige Vater weitaus wichtigeres zu tun, als einer zu häufig der Sünde verfallenden und zu selten Gutes tuenden Chaotin beizustehen. So kam es, wie es kommen musste. Ich erlebte einen Höllenmorgen und ich bin mir sicher, dass Luzifer und seine bösen Anhänger allesamt die Fäden gezogen haben.

Wenn man kränkelt, unternimmt man ungern Reisen. Wie es um die allgemeine Bereitschaft und Freude bestellt ist, eine Fernreise anzutreten, wenn man sich vor Schmerz kaum auf den Beinen halten kann und selbst das sonst so zelebrierte Verweilen in Horizontalstellung keine Linderung bringt, muss ich nicht ausführen. Jeder hat sich schon mal mit irgendwelchen unangenehmen Wehwehchen in ein Flugzeug oder einen Zug geschleppt. Aber lieber Leser, du nimmst jetzt bitte dein schlimmstes Leiden mal 10. Damit auch nur ansatzweise nachempfunden werden kann, was ich heute erleiden musste. Nein, ich habe mich nicht auf den langen Weg nach Asien oder über den Teich gemacht. Eine Fernreise ist für mich alles, was länger als 2 Stunden Fahrt bedeutet. Heute fahre ich 4.5 Stunden. One way. Morgens hin, abends zurück. Auf die Anwesenheit eines Trolleys bis oben hin gefüllt mit zeitvertreibenden Utensilien und lebensrettenden Anwendungen wie z.B. Feuchtigkeitsmaske, zwei Paar Extra-Schuhe, Nintendo DS inkl. 16 Spielen, Tomatensaft und 5 Magazine habe ich heute verzichtet.

Ich wache also auf. Von allein wäre übertrieben und ich habe ja versprochen, alles so zu schildern, wie es sich wahrhaftig zutrug. Meine Aufsteh-Performance ist okay. Nicht gut, aber auch nicht wirklich schlimm. Unter Berücksichtigung der Aufstehzeit, welche ich mit Bauern und potent-laut kreischenden Hähnen in Verbindung bringe, bewege ich mich fast schon leichtfüssig aus dem Bett. Einigermaßen fit bewege ich mich vorsichtig unter die Dusche. Vorsichtig, weil meine Nierenbeckenentzündung mich stets daran erinnert, aktuell in dem Körper einer 80 jährigen Rost-Oma zu stecken. Das Wasser wird heiß und ich bekomme keine Kreislaufprobleme. Toll! Ich will ein Liedchen anstimmen und mich in Freude versetzen und da passiert es: ich habe keine Stimme. Ich versuche, vom Singen auf den normalen Sprachmodus zu switchen, aber keine Chance. Ich bleibe stumm. Ich räuspere mich, unter unfassbaren Schmerzen, und bekomme dann mit großer Konzentration ein Wort heraus: NE NÄ! Genau genommen waren es sogar zwei Worte, aber das macht die Sache nicht besser.

Zu meiner Ungläubigkeit und den Halsschmerzen gesellt sich dann doch ziemlich schnell das eben noch vermisste Kreislaufproblem und ich unterbreche den Duschvorgang, um mich lieblos in Handtücher gehüllt aufs Bett zu legen. Ich bin schwach. Ich kann nicht. Oh doch du kannst!! schreit mir mein persönlicher, unsichtbarer Drill-Instructor ins Gesicht. Ich habe mir den mal angeschafft, er wohnt in meinem schlechten Gewissen, damit ich überhaupt mal irgendwas in meinem unstrukturierten und ziellosen Künstler-Leben auf die Reihe bekomme. Ich jammere wie ein frierender Welpe mitten in der Nacht, frisch getrennt von seiner Mutter und seinen Geschwistern. Leise fiepend bemitleide ich mich selbst, doch Captain Jack kennt keine Gnade. Also tue ich das, was ich nicht hätte tun sollen und was ich noch bitter bereuen werde. Ich stehe auf.

Mit langsamen Bewegungen zwänge ich mich in das am Vorabend ausgewählte Outfit. Sieht gut aus. Sieht sogar sehr gut aus. Um die Nierenbeckenentzündung ruhig zu stellen, setze ich noch schnell das Teewasser auf und ziehe in der Zwischenzeit schon mal die Schühchen an. Das mache ich sonst nie. NIE NIE NIE. Nie ziehe ich schon Schuhe an, bevor ich überhaupt in der Nähe der Haustür bin. Nie. Ich verabscheue es, Schuhe in der Wohnung zu tragen. Hundekackereste und sonst welche Krankheitserreger vom schmutzigen Draußen in die heimeligen vier Wände zu tragen, ist für mich mindestens genauso schlimm, wie in weiche, verschimmelte Obststellen zu beissen. Heute mache ich es aber. Warum, weiß nur der Teufel. Ich widme mich meinem Tee und vielleicht bin ich noch zu müde, vielleicht bin ich zu schwach und sehr von der Krankheit gezeichnet oder vielleicht bin ich einfach nur ein dämlicher Trampel, jedenfalls landet der dunkle Tee auf meinem sorgsam zusammengestellten Dress. Ungläubig schaue ich an mir herunter, die triefende Teetasse noch in der Hand. Ich schließe die Augen. Nein bitte nicht! Ich schiele auf die Uhr. Okay, ruhig bleiben, du hast noch eine Alternative im Schrank. Den süßen Rock mit den Blumen und Blüten. Gedacht, getan. Rock und Oberteil – immer noch beweglich wie ein steifer Gichtpatient - ausziehend humpele ich, dem Esmeralda schmerzlich vermissenden Quasimodo nicht unähnlich, durch den Flur ins Schlafzimmer.

Zu faul, die Schuhe auszuziehen, zwänge ich mich aus Rock A, um in Rock B zu schlüpfen. Faulheit wird bestraft. Nicht morgen, nicht übermorgen, sondern gleich. So bleibt linkes Zauberschühchen keckerweise einfach am Rock hängen und reisst ein nicht zu verachtendes Loch in den Stoff. Ratsch! Für eine kurze Sekunde rede ich mir ein, dass soeben auf gar keinen Fall der Rock, und damit die letzte Alternative, gerissen ist. Aber natürlich, es war der Rock. Nicht der Unterrock, sondern der richtige echte Rock. Der mit den Blumen und Blüten. Okay, denke ich, du kannst immer noch ganz ruhig bleiben. Du nimmst jetzt erst mal eine Schmerztablette und dann lackierst du dir noch schnell die Nägel. Gesagt getan. Animiert durch die Wirkung des Lacks, welchen ich nicht gesoffen, aber tüchtig eingeatmet habe, kommt mir die glorreiche Idee, den Rock doch einfach zu kleben. Ich ertappe mich dabei, wie ich freudig ob des grandiosen Planes in beide Hände klatsche und die Schublade aufreisse. Hahaaaar. So einfach ist das. Ich kratze den verkrusteten Uhu-Kleber mit der Schere frei und schmiere die zähe Masse auf den Rock. Und presse beide Stofffetzen zusammen. Dabei fällt mein Blick auf die frisch gemalten Nägel. Äh! Hässliche Muster haben sich durch die spontane Klebeaktion auf allen Nägeln abgezeichnet. Wieder der Blick auf die Uhr. In weißer Kaninchen-Manier spare ich mir das Sinnieren über die Notwendigkeit perfekter Nägel als Goodie bei einem wichtigen Gespräch und greife nach dem Nagellackentferner. Also auf ein Neues! Ich hab ja Zeit.

Langsam müsste ich eigentlich mal los und lege mir noch schnell die Wegbeschreibung auf die Kommode. Ohne Beschreibungen bin ich aufgeschmissen. Das gilt für alles. Ich fahre nicht ohne Grund als waschechte Hamburgerin in meiner eigenen Stadt mit einem Navigationssystem durch die Gegend. Ohne Beschreibungen fühle ich mich hilflos. Es ist gar nicht so, dass ich sie unbedingt brauche. Sie haben viel mehr einen Placebo-Effekt. Sie beruhigen mich. Und nur für den Fall der Fälle, kann ich ja dann noch mal nachschauen, ob ich auch wirklich richtig liege. Was das betrifft bin ich eben ein kleiner Otis Redding. I need Security and without it I will be lost. Security. And I want it at any cost. Ich gehe noch mal für kleine Mädchen und während ich entspanne, merke ich, wie ich doch in sehr kurzer Zeit bemerkenswert müde geworden bin. Seltsam... ich habe doch nicht?! Ein kurzer Check der Pillenpackungen in der Kosmetiktasche bestätigt: ich habe in der Eile die Schmerz- mit den Schlaftabletten verwechselt. Und zwar nicht mit diesen lächerlichen deutschen Lutschbonbons, die genau genommen weder müde noch träge machen, sondern mit den echten aus Amerika, die vermutlich einen kräftigen Zuchtbullen zum Schlafen bringen. Oder eben bei den Jacksons und Murphys dieser Welt eine gewisse Wirkung erzielten.

Finger in den Hals ist jetzt viel zu spät. Und das Risiko, auch noch das neue Outfit zu bekleckern, ist mir einfach zu groß. Ich kann selbst nicht glauben, wie verantwortungsvoll und vernünftig ich zuweilen agieren kann und verzichte tatsächlich darauf, in den Wagen zu steigen und setze mich in die Bahn. Am Hauptbahnhof angekommen, kaufe ich mir nach all den Strapazen mit letzter Kraft einen großen frisch gepressten Osaft für ein kleines Vermögen. Diesen von der Sonne geküssten, süßen Nektar halte ich ganze 3 Sekunden in den Händen, dann fällt er mir aus diesen. Ich bin eben einfach müde. High. Krank. Am Ende. Und stehe kurz vor einem Zusammenbruch. Türkischer Saftpresser bemerkt dies feinfühlig und sagt sofort: „Nicht schlimm!! Ich mache dir einen neuen.“ Mein Tränenfluss wird gerade noch gestoppt. Müde warte ich auf meinen neuen Drink und will einfach nur noch im Zug sitzen. Er kommt pünktlich. Ich steige ein und habe ein ganzes Abteil für mich allein. Zufrieden schlürfe ich den Osaft und beschließe, dass mich jetzt nichts mehr aus der Ruhe bringen kann. Auch die große Laufmasche, die sich an meinem Knie gebildet hat nicht. Auch nicht die immer stärker werdenden Nierenschmerzen nicht. Denn ich werde mich gleich hinlegen. Und schlafen. Und versuchen, mir dabei den Weg noch mal einzuprägen, denn die Beschreibung habe ich nun doch vergessen.

Was für ein seltsamer Morgen. Mich würde es nicht wundern, wenn mich gleich ein Anruf aus meinem Schlaf reisst, mein Freund mit mir Schluss macht, weil er sich Hals über Kopf in die Inderin aus der Schneiderei verliebt hat, ich meinen Umsteigebahnhof verschlafe, meine Wohnung abgebrannt ist oder oder oder...

To be continued.

5
Mai
2010

Weine nicht.

In den 40ern hat ein kranker Nazi-Arzt Versuche mit den Babies von Juden gemacht. Er isolierte drei Säuglinge in einem sterilen Raum und die Ammen - nicht die leiblichen Mütter - durften die Kleinen nur und ausschließlich wickeln und füttern. Streicheln, sprechen, singen oder küssen war verboten. Nach wenigen Wochen starben alle drei Babies. Wir können nicht leben ohne Liebe, ohne Zuneigung und ohne Wärme. Es gibt aber ebenfalls noch einen großen Teil von Menschen, der nicht ohne Musik leben kann. Musik trägt dich, sie hebt deine bereits gute Laune um 10.000 Meter, sie beruhigt dich nach einem stressigen Tag und manchmal lässt sie dich endlich weinen. Ich bin mir sicher, dass die Selbstmordrate auf der ganzen Welt ohne Musik weitaus höher wäre. Musik rettet dich, deckt dich zu und zeigt dir immer wieder, dass das Leben schön ist. Musik ist wie ein Schwamm, sie saugt deine Emotionen auf und speichert sie. Wie die Büchse der Pandora lässt sich eine bestimmte Gefühls-Truhe in dir mit einem Lied öffnen. Und sie strömen heraus, all die irgendwo in den Tiefen deiner Seele verschlossenen, uralten Gefühle. Aktiviert mit nur einem Lied.

Dem Lied, das du in einer endlos-Schleife hörtest. Nur dieses Lied. Nicht stundenlang, nicht tagelang. Wochen- und monatelang gab es für dich nur diesen einen Song. Du fühlst dich genau wie damals, bist wieder 15 Jahre alt und erinnerst dich an jede Kleinigkeit, jedes Bauchziehen und jede verzweifelte Atemlosigkeit. Dein Herz klopft und du willst dich festhalten, weil du spüren musst, dass du im Jetzt bist und nicht durch einen Hirnschlag gestorben und eine dieser übernatürlichen Zeitreisen machst. 15 lange Jahre sind seit dem Unglück vergangen, du hast deinen Frieden gefunden, die entsetzliche Realität angenommen, sie in dein Leben implementiert und plötzlich läuft unverhofft im Supermark der Song. Und du bleibst stehen, greifst nach dem Rand des Nudelregals, hältst dich fest, schließt die Augen und drückst in Gedanken mit aller Kraft die Gefühls-Truhe zu. Bitte nicht raus kommen. Bitte bitte nicht raus kommen. Doch es ist zu spät. Du weinst. Leise Tränen, die fast schüchtern deine Wangen runterlaufen, werden zu großen Salzwasserperlen und du vergräbst schluchzend dein Gesicht in den Händen. Zum Glück ist es früh am Morgen und zum Glück macht der nette Auszubildende einen gehörigen Lärm mit dem Einräumen der Getränke, so dass du dich schnell fangen, bezahlen, nach Hause eilen und den Song noch mal hören kannst.

Du suchst das Lied bei Youtube, denn du hast es nirgendwo, es steht auf deiner persönlichen schwarzen Liste, findest es und lehnst dich zurück. Lässt dich überrollen von der Traurigkeit und verstehst jede Zeile. Du hörst auf zu weinen. All die traurigen, verzweifelten Gefühle, die zu dem Lied in deinem Bauch und deinem Herzen tanzen, werden langsam. Und ein beruhigender Mantel legt sich über sie. Die gute alte Hoffnung kommt Hand in Hand mit dem Wissen, dass alles gut wird. Du erkennst, dass niemand wirklich geht, dass nicht nur die Emotionen in einem Lied bleiben, sondern auch der Trost und die Liebe.

Ich vermisse dich. Wir sehen uns eines Tages wieder.

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